Was Ich Lese

Der Essayband „Gesammelter Sand“ von Italo Calvino (Hanser Verlag) umfasst 36 kürzere Aufsätze zu unterschiedlichsten Themen: Der erste Teil berichtet von Ausstellungsbesuchen in Paris – so „liest“ Calvino ein berühmtes Gemälde von Delacroix wie einen Roman oder zeichnet die Geschichte der Anfänge der Schrift nach -, der zweite führt nach Italien, etwa zu den Ausgrabungen der römischen Villa von Settefinestre oder auf die Bastionen des Forte del Belvedere in Florenz, die mit den dort ausgestellten Skulpturen von Fausto Melotti in einen imaginären Dialog über das Sein treten. Eine dritte, beunruhigende Gruppe enthält Berichte vom Phantastischen: von imaginären Orten in der Literatur und visionären Künstlern, von Automaten und Feen. Den Abschluss bilden Reiseaufzeichnungen aus Japan, Mexiko und dem Iran.

Alle Texte drehen sich um Gesehenes und um das Sehen, und was mich an diesem Buch beeindruckt, ist zunächst die Genauigkeit der Beobachtung, der staunende Blick gerade auf die unscheinbaren Dinge. Dann die Eleganz und Originalität des Denkens, das subtile Umkreisen der Gegenstände, ohne den Anspruch, sie ein für alle Mal erklären zu wollen. Schließlich die Leichtigkeit und Ökonomie der Sprache.

Der Titelessay erzählt von einer ungewöhnlichen Sammlung. In einer Vitrine stehen Hunderte von etikettierten Gläsern, gefüllt mit Hunderten verschiedenen Arten von Sand: eine bescheidene aber geheimnisvolle Sammlung, die den Betrachter zu genauer Aufmerksamkeit zwingt. Der Sand als Residuum langer Erosionsprozesse steht für die Negation der bunten und vielgestaltigen Welt, aber auch für ihre letzte Substanz. Wenn Calvino an diesem Punkt eine Verbindung zu seinem eigenen Metier herstellt, vermeinen wir einen Kern seiner Poetik zu berühren: „Vielleicht können wir, wenn wir den Sand als Sand und die Wörter als Wörter betrachten, ein wenig besser begreifen, wie und in welchem Maße die zermahlene und zerfallene Welt darin noch ein Fundament und Modell finden kann.“

Beitrag für die Tageszeitung „Die Presse“, erschienen am 10.08.2002