ALFRED BRENDEL ALS LEHRER
Viele Künstler scheuen den akademischen Lehrbetrieb. Sei es, dass sie keinen inneren Drang zum Unterrichten verspüren, zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind oder den bürokratischen Aufwand verachten, der so oft mit einer pädagogischen Tätigkeit einhergeht.
Alfred Brendel hat sich stets für die Arbeit junger Musiker interessiert und einige wenige über einen längeren Zeitraum hinweg privat unterrichtet, etwa Imogen Cooper, Paul Lewis und Kit Armstrong. In jungen Jahren ein musikalischer Außenseiter und weitgehender Autodidakt, erwartet Brendel auch von seinen Schülern eine gewisse Selbständigkeit. Seine erste Regel lautet: „Misstrau allen Regeln!“
Im Sommer 1990 bot sich mir durch die Vermittlung eines gemeinsamen Freundes die Gelegenheit, Alfred Brendel persönlich kennenzulernen und ihm Teile aus Schumanns „Kreisleriana“ sowie den ersten Satz der „Appassionata“ vorzuspielen. In der sich anschließenden Unterrichtsstunde beschäftigte sich Brendel ausführlich mit dem Beginn der Beethoven-Sonate: Hier würden sofort der Grundcharakter und die wichtigsten Bauelemente des Satzes präsentiert und man müsse so genau und klar spielen, dass ein musikalischer Mensch problemlos mitschreiben könne. Wie bei einem guten Film verstehe man das ganze Werk nicht richtig, wenn man den Anfang verpasst habe. Er empfahl mir, Kompositionsstunden zu nehmen, um die Musik vom Standpunkt eines Komponisten aus begreifen zu lernen.
Nach dieser ersten Begegnung durfte ich Alfred Brendel in unregelmäßigen Abständen, etwa zwei-, dreimal im Jahr, zu intensiver, manchmal mehrtägiger Arbeit treffen. Dies waren für mich die entscheidenden musikalischen Eindrücke und Anregungen.
Brendel geht es um die direkte Vermittlung und Weitergabe seiner künstlerischen Einsichten, der Erfahrungen, die er im Laufe einer langen Karriere als reflektierender und enorm selbstkritischer Pianist ansammeln konnte. Weitschweifige theoretische Abhandlungen jedoch muss man sich darunter nicht vorstellen. Am liebsten demonstriert er vom Flügel aus, spielt, singt oder dirigiert etwas vor, mit der gleichen Konzentration, Intensität und Rückhaltlosigkeit, die auch seinen Konzertauftritten eignet.
Seine verbalen Bemerkungen zielen aufs Wesentliche, sind knapp, präzise und konkret, manchmal witzig, mit einem Hang zum Aphoristischen. Viele Erklärungen wirken so logisch und einfach, dass man sich wundert, nicht schon längst selbst draufgekommen zu sein.
Am Beginn des Unterrichts, nach dem ersten Durchspielen eines Stücks, stehen oft zusammenfassende Bemerkungen. Zu meiner etwas chaotischen Darbietung des „Sonetto 104 del Petrarca“ aus dem „Italien-Jahr“ von Liszt sagte er: „Denken Sie daran, dass Sie immer noch ein Sonett vortragen, eine strenge lyrische Form! Sie haben 39 Grad Fieber – 37,5 Grad würden genügen.“
Alfred Brendel hat die Gabe, Werke als Ganzes zu überblicken. Wie beginnt ein Stück, entwickelt sich, kommt zu einem Abschluss? Worin liegt das Besondere, Neue einer Komposition? Immer ist sein Bemühen um Verbindungen spürbar, den großen Bogen über das Ganze, mit dem Ziel einer organischen, von der ersten bis zur letzten Note zwanglos-logisch führenden Darstellung. „Fassen Sie zusammen!“, ist eine seiner häufigsten Forderungen.
Dabei geht es nicht um irgendwelche „Konzepte“, die man dem Werk mehr oder weniger willkürlich von außen überstülpen würde, vielmehr soll die Individualität jedes Stückes zur Geltung gebracht, seine inneren Notwendigkeiten entwickelt werden. Ausgehend vom genauen Studium des Notentextes, bedarf es dazu großer Fantasie und psychologischen Einfühlungsvermögens.
Musiker sollten, Schauspielern vergleichbar, in verschiedenste Rollen schlüpfen können. Ist der Charakter eines Satzes erhaben oder komisch, tänzerisch oder lyrisch, elegant, elegisch, hymnisch oder heroisch? Oder befinden wir uns in einem emotionalen Zwischenbereich, wie in Haydns f-Moll-Variationen, zu denen er einmal meinte, sie würden nicht umsonst im Untertitel die Bezeichnung „Divertimento“ führen und ihr Ernst müsse sich dem Zuhörer indirekt mitteilen.
Oft spricht Brendel über das Atmosphärische der Musik, über Licht und Dunkelheit, Nähe und Ferne, Linie und Farbe, die vier Elemente.
Einsichten in die Form und Struktur eines Werkes wird man im Konzert nicht triumphierend zur Schau stellen, so wichtig sie für die Kohärenz einer Aufführung auch sein mögen: Wo ist ein wichtiger Einsatz zu zeigen, eine nicht schulmäßige Stimmführung herauszuheben? An welcher Stelle ist das Ziel einer harmonischen Entwicklung erreicht? Gibt es harmonisch wichtige Punkte innerhalb einer melodischen Basslinie? Alleine Brendels Hinweis, dass in Bachs Fugen die Zwischenspiele gegenüber dem Thema (fast) immer dynamisch zurücktreten sollten, löst eine Unzahl gestalterischer Probleme.
Zusammenfassen und Überblicken ist das eine, aber ebenso wichtig ist der scheinbar entgegengesetzte Zugang: die Ausarbeitung der Details.
Stunden hindurch durfte ich lernen, Akkorde richtig zu balancieren, zu entscheiden, welche Stimmen hervor-, welche zurücktreten müssen – zuerst einmal, solche feinen Unterschiede überhaupt wahrzunehmen. Welche Note oder Gruppe von Noten innerhalb einer Melodie ist besonders wichtig? (Das Aufspüren solcher „emotionalen Zentren“ innerhalb eines Themas war für meine Arbeit an Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ von großer Bedeutung.) Wie viele Möglichkeiten alleine gibt es, einen Triller zu spielen: mehr die obere oder mehr die untere Note, leise und schnell, langsam und mit vollem Gewicht, gemeißelt, leuchtend, agitato mit accelerando.
Wie oft aber darf man eine bestimmte Nuance wiederholen, bevor es langweilig wird? Und welche Details schließlich sind vielleicht für sich alleine genommen reizvoll, stören aber den Gesamtverlauf? Hier schließt sich der Kreis: das Ganze als die Synthese gleichsam unendlich vieler zueinander passender Einzelteile.
Brendel setzt bei seinen Schülern die Beherrschung des Instruments voraus, sein Zugang ist stets musikalischer, niemals technischer Art. Er möchte uns sogar ein bisschen weg vom allzu Pianistischen bringen – daher die ständige Ermunterung, klavierspielend zu singen, zu sprechen, zu dirigieren und zu „instrumentieren“, die Möglichkeiten des modernen Flügels, seine enorme Wandlungsfähigkeit auszunutzen. Größte Aufmerksamkeit widmet Brendel dabei dem rechten Pedal, „unserem kostbarsten und persönlichsten Kunstmittel“.
Im Lauf der Jahre wurden mir sämtliche Instrumente des Orchesters vom Kontrabass bis zur Flöte abverlangt, ihre charakteristischen Spielarten, sei es der Akzent eines Streichers, die Artikulation eines Holzbläsers oder das gleichmäßige Timbre eines Orgelregisters (mit etwas Kirchenhall); dann die Kombination mehrerer Instrumente, das Plastisch-Räumliche des Orchesterklanges, die volle Wucht des Tutti. Hierzu gehört auch die Erkenntnis, dass ein größeres Kollektiv strenger im Tempo spielen muss als ein Einzelner, der sich manchmal allzu große Freiheiten erlaubt.
Wie lassen sich all diese „außerpianistischen“ Ideen am Klavier realisieren? Brendels Erkenntnisse muten fast wissenschaftlich an: Ausgehend von der Beobachtung, dass schon ein einzelner Ton auf sehr unterschiedliche Weise gespielt werden kann, ergeben sich durch die Aneinanderreihung mehrerer Noten, die Kombination der beiden Hände und den Gebrauch der Pedale praktisch unbegrenzte Möglichkeiten. Man schlage die rechte Hand unmerklich vor der linken an oder umgekehrt; die eine Hand kürzer und/oder lauter als die andere; man artikuliere legato ohne oder non-legato mit Pedal; man spiele mehr aus dem Arm oder aus den Fingern; man sehe das Hinunterspielen „durch die Tasten“ nicht als den normalen Vorgang, vielmehr spiele man, wo immer möglich, von den Tasten aus herauf.
Nur jahrzehntelange hörende Selbstkontrolle und die Übertragung präzisester Klangvorstellungen auf die akustischen Anforderungen großer Konzertsäle können zu solchen Lösungen geführt haben. Kaum ein junger Musiker wird wissen, dass man den sanften Basstriller zu Beginn der letzten Schubert-Sonate in den meisten großen Sälen gänzlich ohne rechtes Pedal spielen muss, obwohl er doch zu Hause mit sehr viel Pedal so geheimnisvoll und zart-verschwommen geklungen hat.
Nach den Klavierlektionen spielt Brendel gerne Aufnahmen seiner pianistischen Fixsterne Edwin Fischer, Wilhelm Kempff oder Alfred Cortot vor; und außerhalb des musikalischen Bezirkes gehören gemeinsame Museums- und Theaterbesuche oder Gespräche über Bücher und Filme zu den inspirierendsten Stunden, die man sich wünschen kann.
Alfred Brendel begegnet seinen Schülern mit Respekt, Großzügigkeit und Wärme. Seine Integrität ist für alle ein Vorbild. Immer wieder mahnt er zur Geduld: Klavierspielen sei eine langfristige Angelegenheit.
Seitdem er Ende 2008 zum allgemeinen Bedauern, selbst aber tränenlos, das Konzertpodium verlassen hat, ist er, neben einer vielbeachteten Schreib-, Lese- und Vortragstätigkeit, auch als Lehrer vermehrt öffentlich in Erscheinung getreten. Besondere Freude bereitet ihm nun die Arbeit mit jungen Streichquartetten und mit Sängern. Im Rahmen einer kurzen Rede beim Klavierfestival Ruhr 2013 fasste er sein pädagogisches Credo so zusammen: „Hatte ich je eine Methode? Ja, vielleicht die eine, dass man, um eine Persönlichkeit zu entwickeln, sich von den Werken, die wir spielen, sagen lassen muss, was sie sind. Das ist ein Paradox, das nicht jeder begreift – vielleicht das Gegenteil dessen, was manche junge Musiker sich vorstellen. Wir müssen versuchen, die Zeichen des Komponisten zu verstehen. Wir stellen nicht uns selbst heraus, sondern, mit unserer aktiven Beihilfe, die Stücke.“
Erschienen in der Zeitschrift “Falter”, 17.12.2008 (Neufassung 2016)