Interview by Walter Schaufler
1993 konnte Till Fellner als erster Österreicher den renommierten Clara-Haskil-Wettbewerb gewinnen. Er hat sich, trotz zahlreicher Verlockungen, bei der Entwicklung seiner Karriere dennoch viel Zeit gelassen. Das Klavierspiel ist für ihn eine „langfristige Angelegenheit“. Was Fellner anpackt, ist durchdacht, wohlkalkuliert, aber frei von akademischem Dünkel. So ist auch seine im Herbst 2002 im Jugendstiltheater entstandene Bach-Aufnahme (betreut von Steinway in Austria) das Ergebnis einer großen, konzessionslosen Denkanstrengung. Doch bei aller analytischen Qualität kommt der „sinnliche“ Aspekt nicht zu kurz. Fellners Bach ist gespickt mit sublimen Nuancen und klanglichen Kostbarkeiten.
Herr Fellner, es fällt auf, dass sie schon sehr früh Werke von J. S. Bach in ihren Programmen verankert hatten. Vor allem die zwei- und dreistimmigen Inventionen sind im Gedächtnis haften geblieben. War dies quasi eine Vorbereitung auf das Wohltemperierte Klavier?
Fellner: Ja, aber ich habe doch erst relativ spät begonnen, Bach zu spielen. Entscheidende Impulse waren für mich die Bach-Aufnahmen Edwin Fischers und die Formenlehre von Erwin Ratz, in der er zeigt, wie wichtig die Inventionen für das Werk Beethovens waren. Dann hat mich auch Alfred Brendel im Unterricht ermutigt, mich weiter mit polyphoner Musik zu beschäftigen. Und schließlich durfte ich einmal mit György Kurtág an den dreistimmigen Inventionen arbeiten. Über die Inventionen gelangte ich zum Wohltemperierten Klavier, dessen 1. Band ich zunächst in einem dreiteiligen Zyklus mit den letzten fünf Beethoven-Sonaten kombinierte und in Folge dann auch komplett an einem Abend spielte – etwa bei meinem Debut-Rezital bei den Salzburger Festspielen 2000. Aus dieser Zeit stammt auch die Idee einer Aufnahme für ECM. In der Saison 2003/04 werde ich übrigens den 2. Band des Wohltemperierten Klaviers Werken des 19. und 20. Jahrhunderts gegenüberstellen, wieder an drei Abenden.
Jewgenij Kissin sagte einmal, er habe noch zu großen Respekt, wenn nicht Angst, Bach zu spielen. Hat es bei Ihnen nie diese Phase gegeben? Von Maurizio Pollini etwa weiß man, dass er das Wohltemperierte Klavier im Repertoire hat. Vor Jahrzehnten hat er es auch im Konzerthaus einmal öffentlich gespielt. Aber zu einer Plattenaufnahme hat er sich noch nicht durchringen können.
Natürlich habe ich größten Respekt vor Bach. Manchmal habe ich auch etwas Angst – vor dem Auswendigspielen. Aber es ist doch so, dass man möglichst früh beginnen sollte, sich mit solchen Meisterwerken zu befassen. Und außerdem durfte ich Alfred Brendel das ganze Wohltemperierte Klavier vorspielen. Diese Unterrichtsstunden haben mir unendlich geholfen!
Was ist das Wohltemperierte Klavier für Sie, eher ein Kompendium großartiger Einzelstücke oder das „Alte Testament des Klaviers“, wie Hans von Bülow meinte?
Beides. Selbstverständlich kann man für das Konzert eine Auswahl treffen. Die Stücke lassen sich wunderbar mit vielen anderen Werken, auch des 20. Jahrhunderts, kombinieren. Niemand wird aber bestreiten, dass das Wohltemperierte Klavier als Ganzes sowie das „Neue Testament“ der 32 Beethoven-Sonaten zwei großartige, ja übermenschliche Höhepunkte des Repertoires darstellen.
Der inhaltliche Zusammenhang der einzelnen Präludien und Fugen war immer Gegenstand umfangreicher Überlegungen. Johann Nepomuk David sah in den Präludien eine „Stätte der Zubereitung des Fugenthemas“. Welche Funktion haben sie Ihrer Meinung nach?
David hat, vereinfacht gesagt, versucht, die Einzeltöne des Fugenthemas in Einzeltönen des Präludiums wiederzufinden, allerdings ohne sich darum zu kümmern, ob diese Noten Melodieträger oder unbetonte Nebennoten waren. Ehrlich gesagt finde ich das nicht sehr überzeugend. Gewiss gibt es zwischen einigen Präludien und Fugen motivische Verwandtschaften. Es gibt aber auch Stücke, die überhaupt keinen solchen Zusammenhang erkennen lassen, E-Dur zum Beispiel. Oft kann man allerdings beobachten, dass am Schluss des Präludiums eine Steigerung stattfindet, die zur Fuge hinführt – sowohl ausdrucksmäßig, als auch in der motivischen Arbeit. Als Beispiel möchte ich die Chromatisierungen im letzten Teil des h-Moll-Präludiums erwähnen, die das „zwölftönige“ Fugenthema vorbereiten. Interessant ist übrigens, dass solche Schlusssteigerungen in den Frühfassungen der Präludien oft noch fehlen.
Auch die Tonarten bilden ja eine Klammer.
Ja, das ist sehr wichtig. Sogar auf den temperiert gestimmten Instrumenten wirken die einzelnen Tonarten doch sehr unterschiedlich, haben ihren eigenen Klang-Charakter.
Es gibt auch oft so etwas wie einen atmosphärischen Zusammenhang: wie wenn man mit dem Präludium einen Raum betreten würde, der sich dann in der Fuge fortsetzt. Zum Beispiel dis/es-Moll: ein Präludium in erhaben-deklamiertem Stil, an dessen verlöschenden Schluss ganz behutsam die Fuge anschließt. Im allgemeinen haben die Präludien natürlich auch eine auflockernde Funktion neben den strengeren Fugen.
Welchen stilistischen Intentionen folgen Sie in Ihrem Bach-Spiel? Die Palette des vergangenen Jahrhunderts reicht ja von einem eher romantisch orientierten Sviatoslav Richter bis zu den Extremen eines Glenn Gould.
Durch die Aufnahmen von Edwin Fischer habe ich gelernt, dass jedes Stück seinen spezifischen Charakter hat.
Im Wohltemperierten Klavier steht Passionsmusik neben lustigen Tanzsätzen. Manche Stücke stellt man sich auf dem Cembalo vor, andere auf der Orgel. Viele Stücke sind gesanglichen Charakters – nicht umsonst spricht Bach im Vorwort zu den Inventionen von der „cantablen Art im Spielen“. Auch Fischers polyphones Spiel kann ich nicht genug bewundern. In seinen besten Momenten ist es zugleich vollendet kontrolliert und poetisch. Es wirkt nie didaktisch, obwohl man bei ihm immer genau hört, „wo das Thema ist“. Es ist diese konsequente Hervorhebung des Themas einerseits – oft allerdings mit wunderbar „ansatzlosen“, unbetonten Einsätzen – andererseits das dynamische Zurücktreten der Zwischenspiele, wodurch er auf ganz natürliche Weise den Aufbau auch langer Fugen nachvollziehbar macht.
Der Zugang zur so genannten Alten Musik hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal gewandelt. Haben die Ergebnisse der Originalklang-Bewegung einen Einfluss auf Ihre Bach-Interpretationen? Könnten Sie sich auch vorstellen, Bach einmal, so wie etwa Friedrich Gulda, am Clavichord zu spielen?
Das Clavichord klingt sehr leise und ist daher für den modernen Konzertsaal wenig geeignet. Man weiß, dass Bach bis zuletzt mit allen möglichen Tasteninstrumenten experimentiert hat. Er war da sehr offen. Von dem verbesserten Silbermann-Hammerflügel, wahrscheinlich um 1740 entstanden, war er begeistert. Die entscheidenden Vorteile unseres modernen Flügels sind seine Wandlungsfähigkeit und die Möglichkeit, gesanglich zu spielen.
Die Puristenmeinung besagt, man sollte bei Bach das rechte Pedal tunlichst weglassen, damit ein klarer Klang zustande kommt.
Klarheit ist sehr wichtig – nicht nur bei Bach. Man muss das Pedal also sehr differenziert einsetzen. Für einen atmosphärischen, plastischen und orchestralen Klavierklang ist die Hilfe des Pedals jedoch unerlässlich. Wenn etwa der Lehrer von Busoni den ersten vier Präludien und Fugen, also von C-Dur bis cis-Moll, die vier Elemente: Wasser, Feuer, Luft und Erde zuordnet, dann frage ich mich, wie man diese Wirkungen ohne Pedal erreichen soll. Das ist doch gar nicht möglich! Übrigens gab es schon bei den Hammerflügeln der Bach-Zeit die Möglichkeit eines registerartigen Aufhebens der Dämpfung. Und wenn ich mir die barocken Marmorsäle so vorstelle – ganz trocken hat das gewiss nicht geklungen.
Welche Anforderungen stellen Sie an das Klavier? Klanglich und technisch?
Der Flügel muss so reguliert und intoniert sein, dass er in allen Lagen und Lautstärken, von ppp bis fff, dynamisch gleichmäßig klingt. Ich habe eine gewisse Toleranz, was die Mechanik betrifft. Wobei ich natürlich auch froh bin, wenn Herr Knüpfer den Flügel reguliert. Das fühlt sich einfach besser an. Was die Intonation betrifft, bin ich aber sehr heikel. Ob man einen lyrisch-runden oder einen brillanten Flügel auswählt, ist auch vom Repertoire und vom Saal abhängig. Auf jeden Fall muss er vollkommen gleichmäßig intoniert sein, auch in der Verschiebung. Das ist neben dem fachlichen Können des Klaviertechnikers vor allem eine Frage der Sorgfalt und Geduld.
Gibt es Präludien und Fugen, die Ihnen besonders wichtig waren, die Ihnen besonders am Herzen liegen oder die Ihnen besonderen Respekt abverlangten?
Die a-Moll-Fuge finde ich besonders schwierig, weil sie über sechs Seiten fast durchgehend vierstimmig und rhythmisch etwas monoton ist. Diesen sogenannten „Bach-Rhythmus“ („kurz-kurz-lang“) ruhig durchzuhalten, ohne dass es statisch wirkt, daneben die zahlreichen Engführungen des Themas zu verdeutlichen und schließlich auch noch an den Gesamtaufbau zu denken: das kann einen schon zur Verzweiflung bringen! Schwierig ist auch die cis-Moll-Fuge, in deren zweiter Hälfte man leicht die Rundheit im Klang verliert. Sie soll ganz verhalten beginnen und sich dann bis zum Schluss steigern. Busoni hat das mit einer riesigen Kathedrale verglichen: die erste Durchführung spielt noch unten im Grabgewölbe, und dann steigt man immer höher bis in die Kuppel hinauf.
Natürlich gibt es Stücke, die ich besonders liebe: Fis-Dur und fis-Moll etwa, als Gegensatz-Paar, ein bisschen wie Frühling und Winter. Dann die wunderbare dis-Moll-Fuge in ihrer trotz aller kontrapunktischen Künste stets transparenten Dreistimmigkeit – man könnte sich das auch von einem Streichtrio gespielt vorstellen. Und schließlich die letzten drei Präludien und Fugen, die für mich in eine Art mystisch- transzendenten Bereich führen.
Opernring, Magazin für Freunde von Steinway in Austria, März 2004